Mittwoch, 9. Februar 2011

Fehlstelle - memento mori

Berliner Zeitung/Feuilleton/ Unterm Strich vom 7. 2. 2011
Der Herzputzeimer

Fahrradkette ab. Gerade frisch geölt. Trauerränder unter meinen Nägeln, Hände ölverschmiert. Keine Papiertücher dabei. An der Hose abgewischt. Schob den Weg nach Hause durch die Stadt und die Silvesterreste. Es war Todestag. Vor einem Jahr starb sie.

Zu Hause angekommen. Fahrrad abgeschlossen. Treppe hoch. Wohnungstür auf. Zu. Schlüssel umgedreht. Auf und ab gegangen, nach einem Bild gesucht, das ich beschreiben könnte. Was ich schon darüber wusste? Dass es im Winter spielen und auf hoher See stattfinden würde. Immerhin - ein Anfang. Skyscraper von Julian Plenti im Hintergrund. Jemand fragte in die Musik hinein, ob ich an Höhenangst leiden würde. ("Are you suffering from vertigo?") Das war die Stimme der italienischen Höhlenführerin in der Grotta del vento. Vor einem halben Jahr war ich dort, tief unten, und es geht noch weiter.

Weit raus auf das Meer, bis der Ort nur noch eine schemenhafte Kulisse war. Wir waren an Bord eines Ersatzschiffes, einem Arbeitsboot eigentlich. Das für die Bestattung vorgesehene Schiff konnte wegen der strengen Witterung nicht genutzt werden. Begrüßung der Angehörigen. Verkündung der Eckdaten. Dann tauchte das Gefäß an einem Seil, am Bug entlang geleitet, ein. Als es verschwunden war, streute der Kapitän orangene Rosenblätter in die See. So, als blühte das Wasser. 
So hatte ich mir immer das Ende im Märchen von der kleinen Seejungfrau vorgestellt. Das Schreien der Möwen wie ferner Gesang. Langstielige Rosen geworfen, landeten im Wasser, verteilten sich, und der Kapitän reichte Glühwein auf einem schmuddeligen Tablett, ein toter Käfer lag am Rand.
Wir tranken. Schipperten dreimal um die Stelle, an dem die Urne aus Granulat mit dem Blumengesteck versunken war. Schiffsglockengeläut. Eine Art Spiegel bildete sich auf der Wasseroberfläche, kreisrund und vollkommen glatt. Kurz darauf schwappte eine Welle hoch, so, als ob sich das Meer sein Geschenk holte. Alles still. Eine Möwe begutachtete die im Wasser schwimmenden Blüten. Kein Fressen, flog weiter.
Ich dachte: nichts. Zigarettenasche ins Meer. Von Bord gegangen. Körper wie ein Eisklumpen, erst an Land, da fiel mir das auf. Kormorane auf Eisschollen, ganz weit hinten.
Plötzlich war es gestern. Einmal noch die Hand drücken.
Wir fuhren mit einem Fahrstuhl zur Preisverleihung, ganz nach oben, über die Dächer der Stadt. Sie hätten sich wirklich mal kämmen können, tadelte sie mich und drohte mit dem Zeigefinger. Ich kämme mich nie, grinste ich. Wir kicherten. Kennengelernt hatten wir uns 1996. Z., ein gemeinsamer Freund, schleuste uns damals als potenzielle Bewährungshelferinnen in das Gefängnis von Moabit ein. Dort wurde er gelegt, der Grundstein für unsere Freundschaft. Anfangs verstand ich nicht, warum gerade ich es war, die dafür ausgesucht wurde. Wofür? Freundschaft. Als ich das erste Mal zu ihr eingeladen wurde und sie mich bekochte, bekam ich heftige Migräne, verbrachte die Nacht in ihrem Gästezimmer, gut versorgt mit einem Eimer neben dem Bett. Den spülte ich am nächsten Morgen aus und verschwand. Bestimmt war es das erste und letzte Mal gewesen, dass hier zu Gast sein durfte. 
Nö. Bald trafen wir uns regelmäßig, gingen ins Kino, besuchten Ausstellungen, unternahmen Hundespaziergänge. Und - ich wurde weiter bekocht. Zu meinem Atelierumzug veranstaltete sie ein Catering, auf ihrer Speisekarte bot sie eine "Abendkantine für Mitarbeiter" an. Wir waren erschöpft und zu acht. Auf der mobilen Herdplatte wärmte sie Suppe auf.
Mein Dank war Kunst. Die bekam bei ihr einen ganz eigenen Sinn. "Brain Cooking", in Ölfarbe auf eine Tafel geschriebene Worte über ihrem Arbeitsplatz, der "Quetschkasten" in der Vitrine ihrer Schwiegermutter zwischen Erbstücken, eine Zeichnung mit "Hemden für Normale" über dem Archivschrank. War Not am Mann, brachte sie mir Kürbissuppe in Tupperdosen. Bei Kräften bleiben. Geschnorrte selbstgedrehte ohne Filter auf dem Balkon und anderswo. Irgendwann beschenkte sie mich mit einem kleinen Eimer in Herzform, den sie in Italien erstanden hatte. Zum Putzen, sagte sie. Den Herzputzeimer hab ich noch. Sie und ihre Kürbissuppe fehlen.

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