Dienstag, 3. August 2010

Langeweile

Am 2. August veröffentlichte die Berliner Zeitung meinen Text samt Zeichnung in ihrem Feuilleton.

Nichts als Märchen

Ich blätterte in einer Kunstzeitschrift und stiess auf einen Bericht über den Künstler Christian Boltanski. Vor einiger Zeit hat er sich an einen Sammler verkauft. Der Sammler zahlt ihm eine monatliche Leibrente und überwacht dafür den Künstler im Atelier mit webcams. Die Überwachung geht bis zum Künstlertod. Ob den Sammler überhaupt interessiert, wie ein Boltanskisches Kunstwerk entsteht? Wie kam der Sammler auf Boltanski? Oder war das die Idee vom Künstler selbst, sich an diesen Sammler, der laut Presseberichten sein Geld hauptsächlich mit und in Spielkasinos erzockt hat, zu verkaufen? Obwohl bereits einige Wochen alt, war der Inhalt des Artikels bisher noch nicht zu mir vorgedrungen. Ein Auftrag, in dem ich mich mit Märchen beschäftigen sollte, hatte mich für einige Zeit von der Außenwelt abgeschnitten, ich mich vergraben, was immer gut ist, ich verzichte gern auf jede Form von Ablenkung oder gar Ferien, wenn ich in meiner Arbeit versinken kann, asozial werde und die Welt um mich herum verschwindet. Nur ein Grund, warum ich Künstlerin geworden bin. Ob ich mich an einen potentiellen Sammler verkaufen würde? Rente sichern per Dauerüberwachung? Ich dachte sofort und mit Schrecken an die Zeiten in Gemeinschaftsateliers oder an die in Künstlerhäusern, in denen die Überprüfung der Anwesenheit zur Tagesordnung gehörte und ich irgendwann kaum noch arbeitete, weil jegliche Art von sozialer Kontrolle, sei sie auch nur gefühlt, meine Ideen im Keim erstickt und mich paralysiert. Schönes Künstlerleben. Modernes Märchen. Man sähe: Nichts. Vielmehr wird übrigens im Boltanski-Film auch nicht zu sehen sein, weil der Künstler viel in der Welt umher reist und außerdem noch andere Ateliers hat. Und naja, die Filmdaten landen weder in einem Museum, einer öffentlichen Sammlung, noch bei dem Sammler zu Hause auf einem leinwandgroßen Flachbildschirm, sondern in irgendeiner schwer zugänglichen tasmanischen Grotte. Um was geht es? Um Vermarktung? Nichts? Alles nur Spiel? Des Kaisers neue Kleider? Der Bauer und der Teufel? Wer ist wer? Neuer Trend? Bald auf RTL II? Eigentlich zu spät. Kürzlich versicherte mir ein Galerist, er würde ja nichts Trendiges und kein so Modezeugs wie die anderen Galerien ausstellen. Eher so schwer Vermittelbares, betonte er, belehrte mich dann, wie ich die Kunst in seiner Galerie anzugucken hätte und wies auf Ausstellungsstücke hin, die aus sparsam mit Lack besprühten, verzogenen Dachlatten bestanden.
Ist Kunst erst wahre Kunst, wenn sie schwer vermittelbar ist? Was soll denn überhaupt vermittelt werden? Inhalt? Form? Idee? Alles? Nichts? Alles egal? Heißt vermittelbar, etwas an den Mann oder die Frau bringen –  im Sinne von verkaufen? Findet ein Verkauf statt, wenn nichts vermittelbar ist? Ist man ein besserer Künstler oder gar Mensch, wenn nichts vermittelbar ist, aber verkauft wird? Hat vermittelbar überhaupt etwas mit verkaufen zu tun und wenn ja, wer bestimmt das? Alte oder junge Geldsäcke? Markt und Nachfrage? Wer fragt? Und wo ist die Grenze zu Schrott, Kitsch & Co?
„Eine Grenze hat kein eigenes Dasein. Sie ist im eigenen Sinne ein Nichts. Sie ist das Dazwischen innerhalb zweier Bereiche“, schrieb der Galerist im Begleittext zu der Ausstellung in seiner Galerie, in der ich mich umsah. Gequirlte Scheiße. Wenn eine Grenze kein eigenes Dasein hat und im eigenen Sinne ein Nichts ist, dann kann sie auch nicht das Dazwischen innerhalb zweier Bereiche sein. Und ein Dazwischen ist kein Nichts sondern immer noch ein veritables Dazwischen Bis ich dreizehn Jahre alt war, musste ich mir das Kinderzimmer mit meiner kleinen Schwester teilen. In die Mitte des ausgebauten Dachzimmers hängten wir eine alte karierte Sofadecke. Die Decke war die Grenze als ein klar definiertes Dazwischen und absolut kein Nichts. Manchmal hob meine Schwester sie zur Seite, meistens dann, wenn meine Mutter sie hochgeschickt hatte, um zu gucken, was ich mit den Jungen, die mich zu Hause besuchten, anstellte. Das Anheben der Decke und der dadurch sichtbar gewordene schwesterliche kleine Finger oder ihr Lockenkopf war die Überschreitung einer Grenze, die zu Ausschreitungen führte, die nicht viel mit geschwisterlicher Liebe zu tun hatten. Kein Nichts, schon gar kein Dazwischen und keine tasmanische Grotte kann da mithalten, Sie können ja mal meine Schwester fragen.

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