Sonntag, 20. November 2011

Das Familiengrab ist voll

Mein Text „Das Familiengrab ist voll“ wurde vor genau sieben Jahren auf der Literaturseite in der Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht.
Wer nicht lesen will, kann den Text anhören.

Das Familiengrab ist voll
Die letzten Mücken der Saison tanzen im Licht der Abendsonne. Eine klebt auf meinen Lippen fest und stirbt, als ich sie mit den Fingern abwische. Auf dem Sportplatz neben dem Waldfriedhof bolzen Jugendliche. Ruhestörung oder willkommene Abwechslung für die Toten? Ich nehme die Stöpsel meines Walkmans aus den Ohren. Hier auf dem Dorf ist es unhöflich, mit Musik über den Friedhof zu spazieren. In der Stadt kümmert sich niemand darum.
Dort sitze ich auf meinem Lieblingsfriedhof vor dem Grab von Carl Blechen, esse Eis, rauche und höre Musik. Hier will ich keine Regeln mehr verletzen. Ich binde den Hund an den Zaun neben die Eingangspforte des Friedhofs.
„Komme gleich wieder“, beruhige ich ihn. Er legt sich hin, kreuzt die Vorderpfoten.
In welcher Reihe liegen die Gräber meiner Großeltern? Keine Ahnung.
Als Kind bin ich oft verzweifelt gewesen. Meine Eltern sagten, für meine Schwester und mich wäre kein Platz mehr an diesem Ort, an dieser Stelle, wo die Eltern mal liegen werden. „Da passen nur sechs Tote drauf“. Mittlerweile hat sich die Lage entschärft. Die Toten werden übereinander gestapelt, meine verstorbene Tante aufbewahrt in einer Urne und begraben auf dem Sarg meiner Oma. Der Bruder meines Vaters liegt seit fünfzig Jahren hier, kümmerte sich niemand um das Grab, würde es jetzt eingeebnet werden. In Reihe zwei harkt eine Frau mit Kopftuch und Kittel das Laub vom Weg. Sie erwidert meinen Gruß nicht, schaut nicht einmal auf. Sie schiebt abgestorbene Blätter zusammen, packt die glitschigen Haufen mit bloßen Händen in bereitgestellte Eimer und entsorgt sie auf dem Komposthaufen.
Körperliche Erinnerungspflege ist eine gute Art, den Tod und Schmerz abzuarbeiten, denke ich und falte die Hände vor den Gräbern meiner Großeltern.
Sie liegen im vierten Gang, links. Feuchte Tannennadeln und Laub haben die Inschriften der Steine zugedeckt. Ich wische die Namen und die gelebten Jahre frei.
Modergeruch. Gestern hätte meine Oma Geburtstag gehabt.
Die Frau in Reihe zwei ist verschwunden. Ich bin allein und stöpsele die Musik wieder in die Ohren. Genug der Anpassung. Mit großen Schritten gehe ich auf den höchsten Punkt des Friedhofs zu. Dort steht die Kapelle. Am Wegrand wachsen Maronen und Steinpilze. Nicht pflücken, sie sind vergiftet mit den Seelen der Menschen, die zu Lebzeiten böse waren, sagte meine Oma, als sie noch dazu gehörte.
Zwischen den Bäumen sind von Spinnen unsichtbare Fäden über den Weg gespannt.
Fäden bleiben im Gesicht hängen.
Ich setze mich auf die Mauer vor den Holzturm mit der Friedhofsglocke. Früher hätte ich mich gerne an das Seil gehängt. Ich rüttele an der Türklinke des Turmes. Verschlossen.
Ich gehe den Weg wieder hinunter und laufe mit dem Hund über ein Feld am Friedhof entlang.
Ganz oben bleiben wir stehen. Strommasten mit drei Leitungen lenken meinen Blick ins Tal. In der Ferne wird diese Linie von Windrädern fortgesetzt. Die Flügel der Räder stehen still.
Würde ich noch malen, dann würde ich diesen Tag, diese Stunden hier mit dem Stillstand der Räder beschreiben. Meine Kehle ist wie zugeschnürt, meine Mundwinkel zucken. Ich ziehe eine imaginäre Linie durch die Landschaft über die Felder ins Dorf. Was will ich hier? Eine Verbindung vom Gestern zum Heute? Einen Zustand konservieren, von dem ich mich längst verabschiedet habe?
Ich muß lachen. Zuviel Sauerstoff. Ich drehe eine Zigarette.
Der Hund schnuppert an irgendetwas Vergammelten, beißt hinein. Er beißt sich in Wut.
Ich kicke die Überbleibsel der Mauseleiche an den Zaun zur Ölförderanlage. Sie landen unter einem Hinweisschild an einer roten Eisenstange. „Zwischenstation 4“. Zwischenstation?
Ich tupfe mir Schweiß mit dem Hemdsärmel von der Stirn und blicke auf abgeerntete Felder.
Nur eine vertrocknete Maispflanze steht noch da, eine spartanische Zeichnung auf einem schmuddeligen Blatt.
Der Hund hat sich hingesetzt. Ich schimpfe und schiebe ihn von hinten an. Er legt sich hin.
Ich zerre  an der Leine. Der Hund verdreht die Augen und macht Würgegeräusche.
Uns kommt ein Paar entgegen, das ich aus Kindertagen kenne.
„Na, ihr seid euch wohl nicht einig!“, lachen sie.
Der Hund ist groß und schwer, ich hebe ihn hoch und lege ihn mir wie einen Kragen um die Schultern.
Am Dorfrand tauchen die ersten Häuser des Neubaugebiets auf. Solche Häuser habe ich hier nicht vermutet. Sie fallen auf in einer Struktur in der es sich am bequemsten lebt, wenn man nicht auffällt. Ich wuchte den Hundekragen von meinen Schultern.
Kinder malen mit Kreide die Grundrisse von Geschäften auf den Fußweg. Die Kinder beobachten uns. Seit achtzehn Jahren lebe ich nicht mehr hier.
Auf der Sparkasse mußte ich gestern meinen Ausweis zeigen.
„Ich kenne Sie nicht“, sagte die Bankangestellte und fragte mich, als sie die Formulare ausfüllte, wie lange ich schon in der Stadt leben würde. Ich zuckte mit den Schultern.
Ein Bach teilt das Dorf in zwei Hälften. Der Bach ist zugewuchert. Niemand scheint sich mehr um das Mähen und Säubern des Ufers zu kümmern. Auf dem Geländer der Brücke wächst Moos, neben der Brücke der Strauch mit den weißen, gelartigen Fruchtbällchen.
Ich pflücke einige und schmeiße sie auf die Straße. Sie zerplatzen unter meinen Füßen.
Dieses Geräusch hatte ich fast vergessen.
Am ehemaligen Grundstück meiner Eltern bleiben wir stehen. Es liegt mitten im Ort.
Drei Eichen an der Straße zum Bach, dahinter die Werkstatt und die Lagerhalle. Das Wohnhaus mit dem Lebensmittelladen, dessen Schaufenster nun von innen zugebaut ist, zeigt zur Hauptstraße.
Vor einiger Zeit ist das Anwesen versteigert worden.
Die Käufer hatten die Betriebe nicht halten können. Die Gebäude stehen leer und verrotten.
Das Lebenswerk meiner Eltern verwandelt sich in eine  Ruine.
Oberstes Gebot in dieser Enge ist, die Fassade zu wahren. Klappt nicht immer. Der Hund zieht mich zum gegenüberliegenden Haus. Er läuft zur Hintertür unserer früheren Nachbarn.
Tante Hilda ist 85 Jahre alt und schiebt sich mit einer Gehhilfe über den Hof.
„Lange nicht gesehen!“
Ob sie ein neues Auto habe, rufe ich ihr entgegen.
Sie grinst und setzt sich auf die Bank ihres Gefährts.
In ihrem Wohnzimmer begiessen wir unser Wiedersehen mit Kaffee-Baileys.
Der Hund schläft, seine Pfoten zucken. Ich streichele ihn.
Er dreht sich auf den Rücken und es sieht aus, als ob er lachen würde. Ich tätschele seinen Bauch. „Manchmal wäre ich gerne mein Haustier“, sage ich zu Tante Hilda.
Sie kippt den Rest Whiskey in unsere Tassen.
Ich bin schon leicht beschwipst, als ich frage, wie es ihr geht. Die Tante krempelt ihre Hose hoch und tippt sich ans Schienenbein. Heute morgen sei sie bei der Ärztin gewesen, sagt sie. Sie hat eine Bandage bekommen, eine offene Stelle heilt nicht zu und sifft ihr die Klamotten voll.
„Scheiß offene Stellen.“ „Ruft er dich nicht an?“ „Nein.“
„Laß ihn zischen, nimm nen Frischen.“
Ich falle ihr prustend um den Hals. Sie klammert sich fest an die Lehnen ihres Sessels.
Abschied. Wie oft habe ich heute schon daran gedacht?
Ob man sich noch einmal wiedersehen wird?
Frau Köllner ist an der Organisation der Beerdigungen im Dorf beteiligt.
Sie kommt mit ihrer Hündin auf uns zu, als wir an der Hauptstraße angelangt sind. Früher hat sie die Toten gewaschen. Mein Vater war als Tischlermeister gleichzeitig auch Bestatter des Ortes.
Kein anderes Bild in meiner Erinnerung ist feierlicher und endgültiger, als das, in dem der Vater im schwarzen Anzug, mit Krawatte und weißem Oberhemd in den Leichenwagen stieg, um die Toten zu ihrer letzten Ruhestätte zu bringen.
Der Tod ist ein Geschäft, das 300 Prozent Gewinn einbringt.
„Gestorben wird immer.“
Die Kopfkissen der Toten wurden mit Sägespäne gefüllt. Für mich als Kind ein Ritual.
Ich krabbelte an der Hobelmaschine in unserer Werkstatt herum und suchte die feinste Buchenspäne aus. Die Öffnung der Kissen nähte meine Oma mit der Hand zu.
Im Keller unserer Tischlerei standen für mögliche Todesfälle Särge verschiedener Ausführungen bereit. Probeliegen als Mutprobe.
Ich schloß die Augen, hielt mir die Ohren zu und die Luft an.
So ist es, wenn man tot ist, dachte ich. Frau Köllner kümmert sich jetzt nur noch um die Sargträger, alles andere wird von einem Bestattungsinstitut erledigt. Getragen wird im Dorf der Reihe nach.
„Ist jemand gestorben?“, begrüße ich sie fragend. Frau Köllner kichert. Sie traue sich schon gar nicht mehr, sich im Dorf sehen zu lassen, sagt sie. Alle würden sie mit dem Tod in Verbindung bringen.  Wir kennen uns schon eine Ewigkeit. Ob der ständige Umgang mit dem Tod sie so junggehalten hat? „Sind deine Eltern nicht da?“, fragt sie mich. „Die sind in Polen, besuchen das Grab des im Krieg gefallenen Vaters meiner Mutter“, erzähle ich ihr.
Meine Mutter hat ihren Vater nie kennengelernt.
Er liegt in der Nähe von Warschau auf einem Soldatenfriedhof.
Die Hunde beschnuppern sich.
Frau Köllners Hündin fletscht die Zähne, sie mag das Rumgetänzel meines Hundes nicht, beißt ihn in den Nacken und schüttelt ihn. Mein Hund drängt sich verdutzt an meine Beine.
„Männer“, sagt Frau Köllner, sie kichert wieder und zieht mit ihrer Hündin weiter.
Ich gucke den beiden hinterher. Frau Köllner sieht aus, als ob sie hüpfen würde.
Sie hat die Verbindung geschafft, denke ich.

Blog-Archiv