Freitag, 28. Oktober 2011

Tante Herta und die Tellerbringer

In der olompischen Heimat
Dass ich auf einem kleinen Dorf aufgewachsen bin, daraus mache ich kein Hehl und betrachte es als großes Geschenk, Stadt und Land zu kennen.
In meiner Kindheit war es üblich, alle Erwachsenen mit Onkel oder Tante und dem Vornamen anzureden, egal ob verwandt oder nicht. Eine dieser Tanten ist Tante Herta. Heute wurde sie neunzig Jahre alt. Viele Jahre lang war sie unsere Nachbarin, bis sie ihr Haus verkaufte.
Einzog ein Brandstifter, der das Haus in Schutt und Asche legte und fast noch die Werkstatt meines Vaters mit abfackelte, aber das ist eine andere Geschichte.
Als Kind liebte ich es noch mehr als heute, an fremden Tischen zu essen: Immer neue Menschen, Räume, Geschichten, Ordnungen und Mahlzeiten.
Diesen ganz allgemeinen Wunsch nach Abwechselung bekam ich also schon mit in die Wiege gelegt. Und es wurde sich von Seiten meiner Eltern auch kaum dagegen widersetzt. Irgendwann fand meine Mutter die mittäglichen Ausflüge ihrer Fünfjährigen, die einfach an „fremden“ Türen klingelte, um zu fragen, ob sie dort Mittag essen dürfe,
jedoch nicht mehr so gut. Sie hatte Angst, die Leute könnten denken, sie sei keine gute Mutter, was natürlich Quatsch war und ist, hätten alle eine Mutter wie ich, gäbe es keine Kriege, aber das ist schon wieder eine andere Geschichte. Jedenfalls sollte ich von nun an wieder zu Hause Mittag essen (meine Mutter verhindert nicht nur Kriege, sie kann auch toll kochen, heißt: Mein Wunsch nach Abwechslung hatte nichts mit fliehen zu tun, diese Freude sei den zur Analyse neigenden Lesern gleich mal schnell versaut!!!).
Meine damals dreijährige Schwester hatte ich zum Zeitpunkt des Verbots schon längst überzeugt, wie bereichernd es war, auch mal in der Nachbarschaft zu essen.
Sie ging zu Tante Herta. Spielte dort unter dem Kastanienbaum mit den Kätzchen bis ihre Augen tränten und der Schnodder lief – Katzenallergie? Kranke Katzen? Beim Wellensittich hatte sie sich mal mit schlimmer Bindehautentzündung angesteckt und sah aus wie ein Angorakaninchen, aber das ist eine andere Geschichte – und aß dann mit Tante Herta und Onkel O. zu Mittag. Eines Tages stand sie plötzlich vor mir. Ganz aufgelöst. Ich habe keinen Teller für dich, du kannst hier nicht mehr essen, hat Tante Herta zu mir gesagt, schluchzte sie.
Tante Herta hatte nicht genug Teller, kein Mittag mehr dort essen.
Ich war empört. Ging zum Schrank. Nahm zwei von den flachen in den einen Arm, an die andere Hand meine Schwester. Raus auf den Hof. Einmal rum ums Haus.


Meine Mutter hatte einen AFU Laden. Das Schaufenster ging zur Hauptstraße. Sie stand hinter der Kasse, als wir vorbeirasten.
Wo wollt ihr denn hin, rief sie und ihr Lachen begleitete uns bis zur Hofeinfahrt von Tante Herta. Die kriegte die Teller und meine Schwester und ich Mittag.


Mahlzeit und Prost, Tante Herta!

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